Glycin – eine vielseitige Aminosäure

Glycin ist die kleinste aller Aminosäuren und elementar für eine Vielzahl an Stoffwechselprozessen in unserem Körper: Glycin hält nicht nur Haut und Blutgefäße jung und elastisch, sondern beugt auch Insulinresistenz vor. In Tierversuchen erhöhte eine Supplementierung mit Glycin die durchschnittliche Lebensdauer; die Wirkung ist ähnlich einer methioninarmen Diät, und es werden entzündungshemmende und antioxidative Wirkungen berichtet.

Was ist Glycin?

Glycin ist die kleinste aller Aminosäuren, aus denen Proteine zusammengesetzt sind. Aufgrund der geringen Größe und der simplen chemischen Struktur ist Glycin an zahlreichen Stoffwechselprozessen beteiligt und Teil vieler Proteine. In Menschen besteht beispielse das wichtigste Protein unserer Haut, Kollagen, aus einem Drittel aus Glycin.
Fun fact: Glycin ist auch außerhalb der Erde in zwei Kometen nachgewiesen worden; das legt nahe, dass Glycin eine der ersten Aminosäuren war, die an der Entwicklung von Leben auf der Erde beteiligt gewesen ist.

Vorteile von Glycin für unsere Gesundheit

Glycin ist für viele wichtige Prozesse in unserem Körper notwendig: (http://dx.doi.org/10.2174/1389557516666160609081602, https://www.hindawi.com/journals/omcl/2017/1716701/, https://www.mdpi.com/2072-6643/11/6/1356)

  • Glycin ist wichtigster Baustein von Kollagen: einem Protein, das für Wachstum und Regeneration von Haut, Knochen, Knorpel, und Blutgefäßen benötigt wird.
  • Zusammen mit der Aminosäure Cystein ist Glycin Ausgangsstoff für die körpereigene Produktion von Glutathion, dem vielleicht effektivsten Antioxidant unseres Körpers, mit dem unsere Zellen vor oxidativem Stress geschützt wird.
  • Für Diabetiker ist Glycin besonders wertvoll, da es den Anstieg von Blutzucker abschwächen und die benötigte Menge an Insulin reduzieren kann. Außerdem wird die Ausschüttung von entzündungsfördernden Botenstoffen gehemmt.
  • Im Gehirn nimmt Glycin eine Rolle als Neurotransmitter ein; in diesem Zusammenhang konnten beispielsweise symptom-lindernde Effekte bei PatientInnen mit Schizophrenie nachgewiesen worden.
Bedeutung von Glycin für die Haut

Als häufigste einzelne Aminosäure in den Kollagenfasern unserer Haut ist Glycin elementar für den Erhalt eines jungen Hautbildes. Wenig überraschend ist in zahlreichen Tieren beobachtet worden, dass durch Zusatz von Glycin zum Futter die Produktion von Kollagen angekurbelt und die Hautelastizität und -feuchtigkeit verbessert werden kann (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5590797/, https://link.springer.com/article/10.1007/s00726-017-2490-6, https://academic.oup.com/jas/article-abstract/98/2/skaa023/5713475). In Menschen ist dieser Zusammenhang bislang lediglich für Kollagen-Supplemente publiziert worden; diese werden im Verdauungstrakt in kleinere Bestandteile zerlegt, von denen Glycin den größten Teil ausmacht. Das lässt vermuten, dass auch in Menschen die Einnahme von Glyzin durch Produktion frischer Kollagenfasern zu glatter und gesunder Haut beiträgt.

Glycin schützt Blutgefäße durch Verringerung von AGEs

Die Alterung von Haut, Blutgefäßen und Bindegewebe wird in großem Maße von AGEs (Advanced Glycation Endproducts) vorangetrieben. Diese Moleküle entstehen in unserem Körper durch Reaktionen von Proteinen mit Blutzucker, sogenannte Glykationsprozesse; Diabetiker weisen daher typischerweise besonders stark erhöhte Konzentrationen von AGEs auf. In Experimenten an Blutgefäßen konnte aber sowohl in Ratten als auch in menschlichen Zellen gezeigt werden, dass über das Trinkwasser aufgenommenes Glycin (1%) die Bildung von AGEs bei Diabetikern auf gesunde Werte reduzieren kann (https://www.hindawi.com/journals/omcl/2019/4628962/). Dies geschieht, indem die Aktivität des Enzyms Glyoxalase gesteigert wird, welches die Vorstufe von AGEs (Methylglyoxal) abbaut (https://www.hindawi.com/journals/omcl/2019/4628962/, https://doi.org/10.1016/B978-0-12-401717-7.00015-0). Viele andere Studien bestätigen die Beobachtung (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1878331713000508, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3283203/); jedoch konnte in keiner Publikation eine Reduktion von AGEs durch Glycin in gesunden, nicht-diabetischen Tieren oder Menschen festgestellt werden.

Bedeutung von Glycin für Synthese des Antioxidants Glutathion

Oxidativer Stress ist ein wesentliches Merkmal von Alterungsprozessen: reaktionsfreudige Moleküle greifen Bestandteile unserer Zellen an und beeinträchtigen ihre Funktion. Glutathion ist einer der stärksten Gegenspieler, die unser Körper selbst herstellen kann. Dieser Antioxidant trägt unter anderem zum Abbau von komplexen Glykationsprodukten (AGEs) in Haut und Gefäßen bei, und wirkt auch gegen Amyloid-β-Strukturen, die mit Alzheimer assoziiert werden (https://ift.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/1541-4337.12376, https://sci-hub.se/10.4149/gpb_2016044, https://journals.physiology.org/doi/full/10.1152/ajpcell.00502.2002, https://content.iospress.com/articles/journal-of-alzheimers-disease/jad181054, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0197018620303223).

Zur Produktion von Glutathion benötigt unser Körper aber Glycin und Cystein (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5855430/, https://academic.oup.com/ajcn/article/94/3/847/4431102). Ein Großteil der Studien, die eine Erhöhung der Glutathion-Level zum Ziel haben, supplementieren daher sowohl Glycin als auch N-Acetylcystein, eine stabilere Vorstufe von Cystein; die Kombination ist in der Literatur als GlyNAC bekannt.

Eine Glutathion-steigernde Wirkung und ein antioxidativer Effekt durch die Einnahme von Glycin alleine sind (ohne Vorerkrankungen) bisher nur in Tierstudien belegt (https://portlandpress.com/clinsci/article-abstract/126/1/19/69211/Glycine-restores-glutathione-and-protects-against, https://academic.oup.com/jn/article/144/10/1540/4575112, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1347861318301543, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2352513422000229).

Wie hilft Glycin bei Diabetes oder Insulinresistenz?

Glycin verhindert bei Diabetikern nicht bloß eine übermäßige Bildung von AGEs, sondern senkt auch den Blutzuckerspiegel und erhöht die Sensitivität für Insulin. Generell (sowohl bei gesunden Menschen als auch bei Insulinresistenz) korrelieren höhere Glycin-Level im Blutplasma mit einem schnelleren Abbau von Blutzucker und einer höheren Insulinsensitivität (https://diabetesjournals.org/diabetes/article/63/2/791/34109/BMI-RQ-Diabetes-and-Sex-Affect-the-Relationships, https://diabetesjournals.org/care/article/39/5/833/30646/Metabolomics-in-Prediabetes-and-Diabetes-A). Ein wichtiger Marker zur Einstufung von Insulinresistenz ist beispielsweise der hbA1C-Wert (hemoglobin A1C), der mit dem durchschnittlichen Blutzuckerlevel der letzten Monate korreliert. Die tägliche Einnahme von 5g Glycin konnte bei Diabetikern den hbA1C-Wert innerhalb von nur 3 Monaten von 8.3% auf 6.9% absenken (https://link.springer.com/article/10.1007/bf03346417). Studien an Ratten und Mäusen konnten diese Diabetes-verbessernden Effekte bestätigen: durch den Zusatz von Glycin zu Nahrung und Trinkwasser ließen sich Blutzucker, hb1AC und Insulin senken (https://cdnsciencepub.com/doi/10.1139/y11-086, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1878331713000508).

In Nicht-Diabetikern konnte in kleineren Studien ebenfalls beobachtet werden, dass die Einnahme von etwa 4.6g Glycin vor dem Essen von 25g Zucker den dadurch verursachten Blutzuckeranstieg um bis zu 50% abschwächen kann (https://doi.org/10.1093/ajcn/76.6.1302). Allerdings verursacht Glycin-Supplementierung auch einen kurzfristigen Anstieg von Insulin (https://doi.org/10.1093/ajcn/76.6.1302, https://doi.org/10.1055/s-2001-15421).

Die Wirkung von Glycin auf Insulin und Blutzuckerspiegel ist wohl komplex und vielfältig (https://link.springer.com/article/10.1007/s40618-021-01720-3). Ein wichtiger Mechanismus betrifft aber die insulin-produzierenden β-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Eine Erhöhung des Glycin-Levels aktiviert den Transport von Cl-Ionen und stimuliert durch die entstehende Depolarisierung der β-Zelle die Produktion von Insulin (https://diabetesjournals.org/diabetes/article/65/8/2311/35170/A-Glycine-Insulin-Autocrine-Feedback-Loop-Enhances). Ingesamt scheint Glycin damit einer Schädigung der β-Zellen durch hohe Blutzuckerspiegel und sich anbahnende Diabetes vorzubeugen.

Glycin wirkt entzündungshemmend

Ein weiterer Wirkmechanismus von Glycin betrifft die Regulation von Botenstoffen, die von Fettzellen produziert werden: einige dieser Botenstoffe fördern Entzündungen, wie beispielsweise IL-6 (interleukin) und TNF-α (tumor necrosis factor); diese Marker sind in Menschen mit Diabetes oder Fettleibigkeit typischerweise deutlich erhöht. In Reagenzglas-Experimenten und Tierversuchen, aber auch in Pilot-Studien an Menschen konnte gezeigt werden, dass Glycin die Produktion dieser entzündungsförderlichen Botenstoffe senken kann und stattdessen entzündungshemmendes Adiponektin und PPAR-γ (proliferator-activated receptor gamma) fördert (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0014299908003531, https://academic.oup.com/jn/article-abstract/122/11/2066/4754683, https://bmcpulmmed.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12890-017-0528-x, https://link.springer.com/article/10.1007/BF03346417, https://link.springer.com/article/10.1007/s000180050030).

Regt Glycin die Fettverbrennung an?

Experimente an Ratten zeigen, dass Glycin in der Nahrung die Konzentration an Fettsäuren im Blutplasma absenken und die Größe von Fettzellen reduzieren kann, vermutlich durch Stimulation des Fettstoffwechsels (https://journals.physiology.org/doi/full/10.1152/ajpregu.00159.2004). Auch in Schweinen ist beobachtet worden, dass Zusatz von 0,16% Glycin zum Futter das Wachstum von Fettpolstern verlangsamt und die Konzentration freier Fettsäuren im Blut um fast die Hälfte verringert (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2405654521000263). Bemerkenswert ist, dass besonders die Menge gesättigter Fettsäuren gesenkt wird, während der Anteil an gesünderen mehrfach ungesättigten Fettsäuren sogar durch die Glycin-Supplementierung steigt.

Leider gibt es bislang kaum Studien an Menschen, die den Einfluss von zusätzlichem Glycin in der Nahrung auf den Fettstoffwechsel untersuchen. Eine Untersuchung älterer PatientInnen fand aber eine Korrelation von hohen Glycinwerten mit einer gesünderen Fettverteilung, d.h. weniger viszeralem und Bauchfett und mehr an (subkutanem) Unterhautfett (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0084034).

Glycin schützt Ratten vor Alkohol-Schäden

Neben den vielen Vorteilen von Glycin-Supplementation für unseren Stoffwechsel gibt es viele Hinweise darauf, dass sich dadurch auch Schädigungen durch Alkohol-Konsum abmildern lassen. In Ratten beispielsweise wird die Absorption von Alkohol ins Blut um die Hälfte verringert, wenn 30min vor dem Alkoholkonsum Glycin eingenommen wird (https://www.gastrojournal.org/article/S0016-5085(96)00227-2/fulltext). Für einen derart starken Effekt war jedoch eine vergleichsweise hohe Glycin-Menge erforderlich, die dem Äquivalent von ca. 20g bei Menschen entspräche. Neben einer Verringerung des Blutalkohols bewirkte Glycin in Tierversuchen auch eine schnellere Regeneration der Leber nach Schädigungen durch Alkoholkonsum (https://jpet.aspetjournals.org/content/286/2/1014, https://www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.aaz2841) und einen Schutz der Gehirnfunktionalität vor Trunkenheit (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/0024320574903701).

Wirkung von Glycin im Gehirn

Inzwischen ist bekannt, dass Glycin eine wichtige Funktion als Neurotransmitter im Gehirn einnimmt (https://link.springer.com/article/10.1007/s00702-009-0326-6, https://doi.org/10.1212/WNL.0b013e31822a2791). Besonders zur Behandlung von Schizophrenie stand Glycin im Fokus: in einer randomisierten doppel-blinden und placebo-kontrollierten Studie konnte eine 30%-Verbesserung von Schizophrenie-Symptomen durch Behandlung mit hochdosiertem Glycin (0.8g pro kg Körpermasse) beobachtet werden (https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/204616). Qualitativ ist die positive Wirkung in weiteren Studien bestätigt worden (https://doi.org/10.1192/bjp.169.5.610, https://ajp.psychiatryonline.org/doi/abs/10.1176/ajp.151.8.1234, https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-642-25758-2_12).

Kann Glycin unseren Schlaf verbessern?

In kleineren randomisierten placebokontrollierten Studien an Menschen ist beobachtet worden, dass die tägliche Einnahme von 3g Glycin am Abend das subjektive Schlafempfinden verbessern und gleichzeitig die Schläfrigkeit tagsüber reduzieren kann (https://link.springer.com/article/10.1111/j.1479-8425.2006.00193.x, https://link.springer.com/article/10.1111/j.1479-8425.2007.00262.x). Objektive Messungen der Einschlafdauer zeigen außerdem eine kürzere Zeitspanne bis zum Erreichen der ersten Tiefschlafphase, auch wenn die Aufteilung der gesamten Schlafphase in Tiefschlaf- und Traumphasen keine Änderung aufweist (https://link.springer.com/article/10.1111/j.1479-8425.2007.00262.x, https://www.nature.com/articles/npp2014326).

In Tieren wirkt Glycin lebensverlängernd, ähnlich wie Methionin-Restriktion

Neben der Vielfalt an Vorteilen für einzelne Stoffwechselprozesse und Krankheitsbilder kommt Glycin besondere Aufmerksamkeit zuteil wegen einer potentiell lebensverlängernden Wirkung: eine Supplementierung mit 8% Glycin hat die Lebensdauer von Ratten um bis zu 30% erhöhen können (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/acel.12953). Die lebensverlängernde Wirkung von Glycin ist aber über Artgrenzen hinweg auch in Mäusen verschiedener genetischer Linien (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/acel.12953, https://faseb.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1096/fasebj.2018.32.1_supplement.533.112), Fliegen und Fadenwürmern berichtet worden (https://doi.org/10.1371/journal.pgen.1007633, https://www.nature.com/articles/ncomms9332); daher liegt die Vermutung nahe, dass auch Menschen von der Einnahme zusätzlichen Glycins profitieren könnten. Auch wenn derzeit keine Daten zur Beeinflussung der Gesamt-Sterblichkeit bei Menschen erhoben worden sind, ist für einzelne Krankheiten ein positiver Effekt von hohen Glycin-Leveln belegt, beispielsweise eine Verringerung des Herzinfarktrisikos (https://www.ahajournals.org/doi/10.1161/JAHA.115.002621, https://www.nature.com/articles/s41467-019-08936-1).

Als Ursache der Lebensverlängernung durch Glycin gilt eine Beeinflussung des Methionin-Stoffwechsels (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1568163723000818): hohe Glycin-Level stimulieren den Abbau von Methionin (von S-Adenosylmethionin (SAM) zu S-Adenosylhomocystein (SAHC)) durch das Enzym GNMT (Glycine-N-Methyltransferase) (https://www.nature.com/articles/ncomms9332, https://www.nature.com/articles/s42003-022-03524-4). Dies bedeutet, dass eine Supplementierung mit Glycin ähnlich wirkt wie eine Verringerung des Methionin-Anteils in der Ernährung.

Kann Glycin Krebs verursachen oder verlangsamt es Tumorwachstum?

Eine hochrangige wissenschaftliche Veröffentlichung mit dem Titel „Key Role for Glycine in Rapid Cancer Cell Proliferation“ schürt Ängste, dass Glycin aufgrund seiner Rolle im Krebsstoffwechsel nicht als Nahrungsergänzungsmittel geeignet ist (https://www.science.org/doi/10.1126/science.1218595). In der Studie ist gemessen worden, welche Nährstoffe von Tumorzellen 60 verschiedener Krebsarten konsumiert werden. Für Glycin ergibt sich ein gemischtes Bild: einige Formen von Krebs nutzen Glycin als Brennstoff für ihren Stoffwechsel, sodass sich das Tumorwachstum durch eine Glycin-arme Diät verlangsamen ließe, während bei anderen Krebslinien Glycin als Abfallprodukt anfällt – hier würde eine Supplementierung mit Glycin möglicherweise den Tumor sogar bekämpfen. Eine Korrelationsmessung zeigt, dass ausgerechnet in schnell wachsenden Tumorarten Glycin als Brennstoff verbraucht wird. Als zugrunde liegenden Mechanismus wird die Bedeutung Glycins für die Purin-Synthese vermutet (https://www.cell.com/trends/biochemical-sciences/fulltext/S0968-0004(14)00028-0). In späteren Arbeiten ist jedoch deutlicher geworden, dass wohl Glycin alleine gar nicht die Purin-Synthese treiben kann und hingegen Serin eine größere Rolle im Krebsstoffwechsel einnimmt (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2211124714003477, siehe auch Review https://www.nature.com/articles/s42255-020-00329-9).

Bei genauerem Betrachten der Korrelationsmessungen des ersten Papers fällt auf: fast alle Aminosäure außer Glycin werden in allen der 60 Krebstypen verstoffwechselt, während Glycin nur in etwa der Hälfte der Tumore tatsächlich verbraucht wird (https://www.science.org/doi/10.1126/science.1218595). Der größte Bedarf liegt gewöhnlich bei den Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Lysin, und auch Methionin wird stark mit Tumorwachstum assoziiert (https://nutritionandmetabolism.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12986-020-00439-x). Das eigentliche Ergebnis der Veröffentlichung ist also nicht, dass Glycin hauptverantwortlich für schnelles Krebswachstum ist, sondern dass Glycin bei manchen Krebsformen (nämlich den langsam wachsenden) sogar das Tumorwachstum bremsen kann. In Tierversuchen ist dies beispielsweise für Leber-Karzinome (https://academic.oup.com/carcin/article/20/11/2075/2529823, https://www.ijbs.com/v15p1582.htm) und Hautkrebs (https://academic.oup.com/carcin/article/20/5/793/2529736) gezeigt worden.

Unabhängig von der Rolle von Proteinen allgemein und der Aminosäure Glycin im speziellen für das Wachstum von Tumoren gibt es bislang keinerlei Anzeichen dafür, dass Glycin die Bildung neuer Tumore fördern würde. Im Gegenteil: eine Studie mit mehr als 80.000 TeilnehmerInnen fand keine Korrelation der Glycin-Konzentration im Blut mit der Bildung von Brust-, Eierstock- oder Prostatakrebs (https://www.nature.com/articles/s41467-019-08936-1).

Glycin-Supplementierung

Wer sollte Glycin nehmen?

Generell ist es für alle Menschen sinnvoll, Glycin-Supplemente zu nehmen, weil der Bedarf bei durchschnittlicher Ernährung sonst nicht gedeckt werden kann (https://link.springer.com/article/10.1007/s12038-009-0100-9). In geringen Mengen kann unser Körper zwar Glycin durch Synthese aus Serin selbst produzieren, weshalb Glycin üblicherweise als nicht-essentielle Aminosäure beschrieben wird, doch ist die körpereigene Glycin-Produktion nicht ausreichend.

Interessanterweise sind Fleischesser in der Regel nicht besser mit Glycin versorgt als Vegetarier oder Veganer, obwohl eine Ernährung mit Fleisch im Allgemeinen mehr Proteine bereitstellt. Ein Grund dafür liegt darin, dass tierische Lebensmittel einen höheren Anteil der Aminosäure Methionin aufweisen, und Glycin benötigt wird, um Methionin abzubauen. Als Folge des effektiv höheren Glycin-Bedarfs einer tierischen Diät haben Veganer sogar durchschnittlich höhere Glycin-Konzentrationen im Blut als Fleischesser, obwohl letztere absolut gesehen mehr Glycin über die Nahrung zu sich nehmen (https://www.nature.com/articles/ejcn2015144, https://www.bmj.com/content/360/bmj.k134/rr-1).

Wie viel Glycin braucht man?

Messungen und Berechnungen des Glycinbedarfs für die Produktion wichtiger organischer Stoffwechselprodukte ergeben ca. 1.5g/day (https://link.springer.com/article/10.1007/s12038-009-0100-9). Zusätzlich wird Glycin aber auch für die Herstellung und Erneuerung von Kollagen verbraucht, das in großen Mengen für Knochen, Muskeln, Haut und Knorpel benötigt wird. Die genaue Menge lässt sich nur schätzen, aber der Bedarf an Glycin für die Kollagenproduktion beträgt wahrscheinlich bis zu 12g/day; unter Annahme von typischen Kollagen-Erneuerungsraten in jungen Männern. Diesem Gesamtverbrauch von 13.5g/day stehen eine körpereigene Glycinsynthese von etwa 3g/day und die Aufnahme von Glycin über Protein aus der Nahrung von etwa 1.5g/day gegenüber. Insgesamt könnte der Körper also von Glycin-Supplementierung von bis zu 9g/day profitieren (https://link.springer.com/article/10.1007/s12038-009-0100-9).

Erfreulicherweise werden auch höhere Mengen an Glycin in der Nahrung sehr gut von Menschen vertragen. Studien mit bis zu 1g/kg/day (d.h. 70g/day für einen Menschen mit 70kg Körpergewicht) haben keine negativen Begleiterscheinungen oder Unverträglichkeiten berichtet (https://doi.org/10.1192/bjp.169.5.610, https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/fullarticle/204616).

In wissenschaftlichen Studien an Menschen liegt die Glycin-Dosis typischerweise zwischen 5g/day (https://link.springer.com/article/10.1007/bf03346417) und 30g/day (https://bmcpulmmed.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12890-017-0528-x). Bei Supplementierung mit weniger als 1g/day ist die Wirkung vermutlich zu schwach, um signifikante Resultate zu erzielen (https://www.mdpi.com/2072-6643/15/1/96).

Welche Nahrungsmittel enthalten viel Glycin?

Viel Glycin steckt in Haut von Schweinen oder Hühnchen (bis zu 10g bzw 1.8g pro 100g) – ähnlich wie in Menschen besteht auch bei Tieren Haut zu großen Teilen aus Kollagen, das reich an Glycin ist. Auch Gelatine, die traditionell aus Haut und Knochen von Tieren gewonnen wird, enthält viel Glycin. Unter pflanzlichen Nahrungsmitteln sind Nüsse (1.5g bis 2g pro 100g) und Sojaprodukte (0.5g pro 100g) gute Glycin-Lieferanten. Zur Supplementierung eignet sich aber auch reines Glycin-Pulver, das auf Basis von Ammoniak künstlich hergestellt wurde. Reines Glycin hat einen leicht süßlichen Geschmack und wird von manchen Menschen auch zum Süßen von Kaffee oder Tee genutzt.

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