„Altern ist eine Krankheit und kann gestoppt werden“ – dieser Ansicht ist zumindest Dr. David Sinclair, Professor an der renommierten Harvard Medical School. In seinem Buch „Das Ende des Alterns – die revolutionäre Medizin von morgen“ legt er ausführlich dar, welche Entdeckungen der Wissenschaft seit Beginn des 21. Jahrhunderts den Blick auf das Älterwerden auf den Kopf gestellt haben: bis vor wenigen Jahrzehnten glaubte man noch, dass Alterungsprozesse im menschlichen Körper vorprogrammiert sind und der Mensch sich mit dem damit verbundenen Abbau körperlicher und geistiger Fitness abfinden muss. In den letzten Jahrzehnten verdichten sich allerdings die Hinweise darauf, dass alle Organismen bereits auf Zellebene eine Vielzahl an Reparatur- und Überlebensmechanismen entwickelt haben, die im hohen Alter bloß nicht mehr ausreichend aktiviert werden. Einzelne dieser Überlebensmechanismen sind jedoch bereits so gut erforscht, dass bekannt ist, wie sie sich gezielt aktivieren lassen. In vielen Fällen können bestimmte Medikamente die Verjüngungsprozesse wieder ankurbeln, aber bisweilen genügen auch Nahrungsergänzungsmittel oder sogar bloß Verhaltensweisen wie körperliche Bewegung und bestimmte Ernährungsweisen.
Mit Verweisen auf optimistisch stimmende Studien an Mäusen und anderen Tieren zeichnet Dr. David Sinclair ein Bild von einer Zukunft, in der die durchschnittliche Lebenserwartung durch gezieltes Aktivieren der Reparaturmechanismen im Alter um einige Jahrzehnte erhöht werden könnte. Dabei belässt er es nicht bei vagen Andeutungen, sondern gibt konkrete Ratschläge, welche Maßnahmen Menschen schon jetzt treffen können, um sich im Alter an bester Gesundheit und körperlicher Fitness zu erfreuen und ihre Wahrscheinlichkeit für ein besonders langes Leben zu erhöhen.
Inhaltsverzeichnis
- Warum altern wir?
- DNA und Epigenom – Informationen auf Zell-Ebene
- Altern bedeutet Informationsverlust
- Reparatur-Enzyme halten Epigenom jung
- Altern ist eine Krankheit, die sich bekämpfen lässt
- Verjüngung durch Impfung mit Gen-Cocktail
- Ein Blick in die Zukunft: welche Folgen hat das Hinauszögern des Alterns für die Gesellschaft?
- Wie Langlebigkeitsforschung unsere Gesundheitssysteme entlasten könnte
- Wie hält sich David Sinclair jung?
- Sinclairs Lebensstil für ein längeres Leben
- Fazit
- Hinweis
Warum altern wir?
Den ersten Teil seines Buchs „Das Ende des Alterns“ beginnt Sinclair mit einer Beschreibung von Alterungsprozessen auf der Ebene einzelner Zellen. Mehrfach betont der Harvard-Professor, „der einzige Grund, warum wir altern, ist ein Informationsverlust“ (S. 50).
DNA und Epigenom – Informationen auf Zell-Ebene
Jede Zelle enthält mit unserer DNA zum einen die vollständige genetische Information über unseren Körper, quasi einen Bauplan für einen ganzen Menschen. Dieser Bauplan ist von Mensch zu Mensch leicht unterschiedlich, weshalb unsere DNA auch als „genetischer Fingerabdruck“ bezeichnet wird. Dass in jeder Zelle die Informationen für den ganzen Körper liegen, wird im Klonen deutlich: hier wird die DNA aus einer erwachsenen Zelle entnommen und in eine Eizelle eingefügt, und es kann ein neues Lebewesen heranwachsen.
Allerdings würde DNA alleine nur ein unvollständiges Bild von unserem Körper zeichnen: eineiige Zwillinge beispielsweise haben zwar die gleiche DNA, unterscheiden sich aber dennoch in Details. Und auch innerhalb eines Körpers ist die DNA in allen Zellen die gleiche, und trotzdem findet eine Ausdifferenzierung statt: manche Zellen bilden Knochen, andere Blut, Haut oder Muskeln. Neben der genetischen Information in unserer DNA muss also zusätzliche Information vorliegen, die für derartige Unterschiede verantwortlich ist: man spricht auch von epigenetischer Information. Vereinfacht gesagt: unsere Gene sind der Bauplan unseres Körpers, und die Epigenetik bestimmt, wie und welchen Teil dieses Plans jede einzelne Zelle umsetzt. Auf molekularer Ebene wird diese epigenetische Information im Wesentlichen festgelegt durch die räumliche Struktur der DNA, also wie die DNA-Ketten aufgewickelt und ineinander gefaltet werden.
Altern bedeutet Informationsverlust
Um den Unterschied zwischen genetischer und epigenetischer Information zu erklären, bemüht David Sinclair eine Reihe verschiedener Vergleiche: wenn unsere Gene die Tasten eines Klaviers sind, ist unser Epigenom der Klavierspieler, der mit ihnen musiziert (S. 70). Oder: „Vergleicht man das Genom mit einem Computer, dann ist das Epigenom die Software“ (S. 52). All diese Vergleiche sollen verdeutlichen: während die DNA ein erstaunlich robuster und sicherer Speicher für unsere Gene ist, ist das Epigenom viel fragiler: im Laufe eines Lebens ist es unvermeidbar, dass die DNA-Knäuel in unseren Zellen ihre ursprüngliche räumliche Struktur verlieren und damit ein Teil der epigenetischen Information nicht mehr verfügbar ist. Die betroffenen Zellen verlieren quasi ihre Identität und stellen schließlich ihre Funktionen ein.
Wie Wissenschaftlerinnen in den letzten zwei Jahrzehnten mehr und mehr entdeckt und verstanden haben, existieren in allen Organismen verschiedene Reparaturprozesse, die letztendlich dem Verfall von epigenetischer Information entgegenwirken und so das Überleben unserer Zellen sichern. Die verblüffendste Erkenntnis ist jedoch, dass sich derartige Überlebensmechanismen durch wenige Faktoren aktivieren und verstärken lassen: zum einen kommen bestimmte Nahrungsergänzungsmittel in Frage, durch die körpereigene Reparaturprozesse unterstützt werden, die dem Verlust epigenetischer Information und damit dem Altern entgegenwirken. Eine Anti-Aging-Pille für ein längeres Leben und hohe Fitness im Alter scheint gar nicht so unrealistisch zu sein, wie Experimente an Mäusen demonstrieren (https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(16)30495-8, https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(17)30670-8). Zum anderen zeigen Tierversuche aber auch, dass Überlebensmechanismen auf Zell-Ebene auch durch unser Verhalten aktiviert werden können, insbesondere durch eine kontrollierte Ernährung mit zeitweisem Fasten (https://www.nature.com/articles/s42255-021-00466-9), Vermeidung von Übergewicht (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7230387/ und https://sci-hub.se/10.1177/019262339602400618) und Verknappung einiger Aminosäuren (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/acel.12796) sowie durch körperliche Bewegung (https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fendo.2018.00258/full) und Kälteeinfluss (https://febs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/1873-3468.13779, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0024320515004440).
Reparatur-Enzyme halten Epigenom jung
Besondere Aufmerksamkeit widmet Dr. Sinclair speziellen Enzymen, sogenannten Sirtuinen, die in verschiedenen Mechanismen daran beteiligt sind, unser Genom und Epigenom jung zu halten (https://www.nature.com/articles/onc2013344): beispielsweise sind Sirtuine an der Ausbesserung von DNA-Brüchen beteiligt, indem sie spezialisierte Reparaturmoleküle aktivieren. Außerdem reduzieren diese Enzyme das epigenetische Rauschen, indem sie der DNA ermöglichen, durch Zusammenfalten eine kompaktere Struktur einzunehmen. Dadurch werden Genabschnitte deaktiviert, die ansonsten die Zell-Identität stören würden, sie also altern ließen.
Sirtuine sind in der Wissenschaft nicht nur deshalb so hoch geschätzt, weil sie mit der Regulierung des Epigenoms eine Schlüsselfunktion einnehmen, die an vielen unterschiedlichen zellulären Prozessen beteiligt sind: neben Reparaturmechanismen, die dem Altern entgegenwirken, haben Sirtuine beispielsweise auch Auswirkungen auf den Stoffwechsel (https://www.nature.com/articles/nrm3293). Gleichzeitig stellen Sirtuine eine hoch konservierte Klasse an Enzymen dar; das heißt, sie finden sich in Menschen genauso wie in Mäusen, Würmern und Fliegen; in ähnlicher Struktur und Funktion sogar in Hefezellen (https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/07853890701408194, http://www.ijdb.ehu.es/web/descarga/paper/082675av). Für die Forschung ist dies ein Traum, da sich so viele Erkenntnisse leicht von einem Lebewesen auf ein anderes übertragen lassen. Nicht nur deshalb fokussiert sich David Sinclair darauf, wie Sirtuine dem Altern entgegenwirken; weil er selbst bereits als Postdoc die Bedeutung dieser Moleküle auf die Alterung von Hefezellen entdeckt und erforscht hat, kann er mit großer Kompetenz überzeugen und den Lesern sogar Details auf molekularer Ebene anschaulich vermitteln.
Um arbeiten zu können und Zellen jung zu halten, benötigen Sirtuine Energie in Form von NAD+ (https://www.nature.com/articles/35001622, https://www.nature.com/articles/npjamd201617), einem Molekül, das der Körper aus Vitamin B3 herstellt (https://sci-hub.se/10.1016/j.mad.2010.03.006). Forscherinnen haben beobachtet, dass die Konzentration an NAD+ im Körper abnimmt, wenn wir altern (https://www.liebertpub.com/doi/full/10.1089/rej.2018.2077, https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(17)30670-8), was zu einem Rückgang an Sirtuin-Aktivität in den Reparaturprozessen an Genom und Epigenom führt. Das Absinken des NAD+-Spiegels begünstigt also zelluläre Alterungsprozesse. Hier sehen Wissenschaftler aber großes Potenzial: indem durch Einnahme von bestimmten Formen des Vitamin B3 eine hohe NAD+ Konzentration in den Zellen auch im fortgeschrittenen Alter erhalten wird, kann eine Reihe an typischen Alterungserscheinungen verringert werden (https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(16)30495-8, https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(17)30670-8). Zudem konnte an Mäusen gezeigt werden, dass durch derartige Nahrungsergänzungsmittel auch die Fruchtbarkeit gealterter weiblicher Tiere erhöht werden kann (https://www.cell.com/cell-reports/fulltext/S2211-1247(20)30083-8). Tatsächlich berichtet David Sinclair in seinem Buch auch von anekdotischer Evidenz in Menschen, dass sich bei Frauen in der Menopause nach Einnahme einer NAD-Vorstufe wieder ihr Menstruationszyklus eingestellt hat (S. 198).
Neben Sirtuinen, NAD+ und diverser NAD-Vorstufen erwähnt der Wissenschaftler, Unternehmer und Buchautor auch viele weitere Stoffe, für die es Anzeichen gibt, dass sie körpereigene Reparaturprozesse anstoßen und altersbedingte Krankheiten verhindern: darunter Metformin, ein weitverbreitetes Medikament gegen Diabetes, und Resveratrol, ein Pflanzenstoff, der besonders in roten Beeren und Rotwein enthalten ist. Nicht immer wird aber deutlich, dass ein Großteil der Versuchen an Mäusen und einfacheren Organismen durchgeführt worden ist, und dass eine Wirksamkeit in Menschen nur selten pauschal gefolgert werden kann (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3116821/, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3440975/).
Altern ist eine Krankheit, die sich bekämpfen lässt
Immer wieder betont Prof. Sinclair: die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, dass Demenz, Herz-Kreislaufschwäche oder Muskelabbau nicht die Ursachen alterstypischer Beeinträchtigungen sind, sondern Symptome eines einzigen zugrundeliegenden Prozesses: das Altern selbst ist gewissermaßen eine Krankheit. In jüngster Zeit finden sich immer mehr Möglichkeiten, Alterungsprozesse abzubremsen, wodurch sich eine Vielzahl an alterstypischen Beeinträchtigungen behandeln lässt: alleine das Anheben des zellulären NAD+-Spiegels durch Einnahme von Vitamin-B3-ähnlichen Präparaten können vermutlich Arteriosklerose (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/acel.12461), Herzschwäche (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/apha.13551), Grünen Star (https://www.science.org/doi/10.1126/science.aal0092), Typ-2-Diabetes (https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(11)00346-9), Depressionen (https://molecularbrain.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13041-020-00703-4), Alzheimer (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15134388/, https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1718819115) und möglicherweise sogar Parkinson (https://sci-hub.se/10.1016/j.mad.2021.111499) bekämpfen.
Der Harvard-Professor geht in seinem Buch „Das Ende des Alterns“ allerdings über das Unterrichten von zellulären Alterungs- und Verjüngungsprozessen sowie das Anpreisen vielversprechender Verjüngungspillen hinaus; vielmehr beschreibt er eine weitumfassende Vision: durch verbesserte Diagnostik ist es zunehmend schneller, günstiger und überhaupt erst möglich, sowohl genetische Informationen als auch molekulare Marker in Patienten vermessen und das daraus gewonnene Wissen zur gezielteren Krankheitsbehandlung zu nutzen. Er hält es nicht für abwegig, dass in Zukunft der Großteil der Krankheiten im Rahmen regelmäßiger Screenings von Blutproben oder sogar Atemluft sehr viel früher und eindeutiger erkannt werden als bisher. Ein immer besser werdendes Verständnis der zugrundeliegenden zellulären Krankheitsursachen ermöglicht gleichzeitig eine sehr spezifische Behandlung. Besonders großes Potential sieht Sinclair dabei in Gen-Therapien und Behandlungen mit Stammzellen – quasi menschlichen Jungbrunnen-Zellen.
Verjüngung durch Impfung mit Gen-Cocktail
Als Beispiel beschreibt er einen jüngst erzielten Durchbruch seines Labors in Versuchen mit Mäusen (http://www.nature.com/articles/s41586-020-2975-4): normalerweise verlieren ältere Tiere die Fähigkeit, Schäden an ihren Sehnerven zu reparieren; verlieren sie durch Krankheit oder Verletzungen ihre Sehfähigkeit, müssen sie damit den Rest ihres Lebens verbringen. WissenschaftlerInnen aus Sinclairs Arbeitsgruppe haben jedoch eine Kombination von Genen gefunden, die selbst in gealtertem Gewebe einen zellulären Verjüngungsprozess durch Wiederherstellung des ursprünglichen Epigenoms anregt und so einen beschädigten Sehnervs wieder zusammenwachsen ließ. Dabei wurden die Gene über einen gentechnisch konstruierten und ansonsten harmlosen Virus in die Mäuse eingeschleust. Im Experiment ist die Aktivität dieser Gene zusätzlich an ein spezielles Medikament gekoppelt worden, sodass sogar nach Gabe der Gen-Impfung deren Einfluss ein- und wieder ausgeschaltet werden konnte.
In ähnlicher Weise, wie eine solche Gen-Impfung Nervenzellen in Mäusen verjüngen konnte, stellt sich Sinclair auch zukünftige Behandlungen an Menschen vor: „Zu einem typischen Impfplan […] könnte in einigen Jahrzehnten auch eine Injektion gehören, die im mittleren Alter die weitere Alterung verhindert“ (S. 220). Gezielte Manipulation unseres eigenen Genoms hält er sogar zu vorbeugenden Zwecken nicht nur für sinnvoll und möglich, sondern sogar für moralisch zwingend: wenn uns Mittel und Wege bekannt sind, gefährliche Krankheiten zu verhindern, müssen diese Methoden auch der breiten Gesellschaft zur Verfügung stehen.
Ein Blick in die Zukunft: welche Folgen hat das Hinauszögern des Alterns für die Gesellschaft?
Die Möglichkeit, mit moderner Medizin das Leben der Menschen um einige Jahrzehnte zu verlängern und von Alterskrankheiten zu befreien, sieht Prof. Sinclair als greifbar nah und auch unausweichlich. Gleichzeitig ist er sich aber bewusst, dass diese Vorstellung für viele Menschen fremd und mit allerlei Problemen behaftet ist. Die zweite Hälfte seines Buchs diskutiert daher gesellschaftliche, ethische und politische Fragen so einer Entwicklung.
Zuerst stellt sich der Mediziner der Frage, ob eine längere Lebensdauer gesamtgesellschaftlich überhaupt erstrebenswert erscheint. Gegnern der Langlebigkeitsforschung, die ihre Haltung mit religiösen bzw. ethischen Einwänden begründen (wie etwa, das endliche Leben sei durch die Natur oder Gott vorgesehen) entgegnet Sinclair, dass heutzutage wohl niemand mehr eine hohe Kindersterblichkeit als „normal“, „natürlich“ oder „gottgewollt“ akzeptieren würde – selbst wenn dies bis vor einem Jahrhundert vielleicht noch üblich gewesen ist.
Ein zweites Argument der Skeptiker: eine drohende Überbevölkerung der Erde, deren Ressourcen nicht ausreichen werden, um alle Menschen gleichermaßen reichhaltig zu versorgen. Sinclair betont zwar, dass Technologien, die das Leben der Menschen verlängern können, im Rahmen von grüner Gentechnik die Produktivität von Nahrungsmitteln um ein Vielfaches erhöhen. Er gibt aber auch zu bedenken, dass eine Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung durch Fortschritte in der Medizin viel zu wenig in Zukunftsprognosen für Bevölkerungsmodelle und Ressourcenbedarf eingepreist seien.
Ein drittes mögliches Gegenargument erkennt Sinclair an, sieht darin jedoch kein grundsätzliches Problem: natürlich müsse der medizinische Fortschritt allen Völkern und Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zur Verfügung gestellt werden. Ansonsten könnte sich die Spaltung zwischen Armen, die aus Kostengründen an lebensverlängernden Maßnahmen nicht teilhaben könnten, und Reichen, die Jahrzehnte länger leben können, selbst verstärken (S. 313).
Insgesamt jedoch blickt Sinclair positiv in die Zukunft – nicht trotz, sondern sogar wegen der bevorstehenden Revolution durch dramatisch verlängerte Lebensdauern. In der liberal-konservativen Argumentation, dass in der Geschichte der Menschheit bisher schon immer unser Erfindergeist eher unter- als überschätzt worden ist, und daher die Zukunft Lösungen für drohende Probleme bringen würde, die wir uns heute gar nicht vorstellen können (S. 323-326). In diesem Zusammenhang seien eine wachsende Bevölkerung und ein größer werdender Anteil älterer Menschen als bereichernd für unser kulturelles Leben und möglicherweise sogar positiv für unsere Innovationsfähigkeit zu begrüßen.
Der Buchautor führt weitere Argumente für einen Ausbau der Langlebigkeitsforschung an: eine Verlängerung des Lebens und der fruchtbaren Jahre gebe Frauen mehr Flexibilität bei der Familienplanung (S. 344). Die Möglichkeit, ohne erhöhte gesundheitliche Risiken auch im mittleren Alter Kinder zu kriegen, könne womöglich auch wesentlich zu einer Verbesserung der Gleichstellung zwischen Mann und Frau beitragen. Außerdem zitiert er eine psychologische Studie, die Stress und zeitlichen Druck als wesentlichen Faktor für niedrigere Hilfsbereitschaft identifiziert (https://doi.org/10.1037/h0034449). Sinclair hofft, dass ein längeres gesundes Leben zu weniger Stress und weniger zeitlichem Druck führt und dadurch in der breiten Masse die Hilfsbereitschaft erhöht werden könnte.
Wie Langlebigkeitsforschung unsere Gesundheitssysteme entlasten könnte
Ausführlich widmet sich der Wissenschaftler auch dem finanziellen und wirtschaftlichen Aspekt (S. 342): ein längeres Leben bedeutet zwar potentiell längere Rentenzahlungen, allerdings sei auch mit einer besseren Gesundheit im Alter zu rechnen. Diese reduziere die Kosten für Behandlungen von Alterskrankheiten erheblich, während gleichzeitig die Menschen auch in höherem Alter noch Erwerbstätigkeit oder Ehrenämtern nachgehen können (http://perspectivesinmedicine.cshlp.org/content/6/2/a025072).
Mit großer Vehemenz beklagt Sinclair die Unverhältnismäßigkeit, dass Forschungsgelder verschiedener Medizin-Fachbereiche nicht die Zahl potentieller Nutznießer widerspiegle und die Alterungs- bzw. Langlebigkeitsforschung deutlich unterfinanziert sei, wenn man beachtet, dass quasi jeder Mensch davon profitieren würde. Hier macht der Harvard-Professor, der einen großen Teil seiner Forschung auch in Unternehmen und Start-ups durchführt und an deren Gewinnen entsprechend beteiligt ist, fast schon explizit Werbung für sich selbst: „Mehr Finanzmittel für die Forschungsarbeiten […] in meinem Labor […] könnten die Fortschritte [in der Langlebigkeitsforschung] schon früher herbeiführen“ (S. 398).
In der langen Diskussion über gesellschaftliche Auswirkungen und Wechselwirkungen längerer Lebensdauern gibt sich David Sinclair sehr offen als Zukunftsoptimist zu erkennen, der in seiner Arbeit bahnbrechendes Potential sieht – zu Recht. Allerdings endet er dieses Kapitel für einen Wissenschaftler ungewöhnlich subjektiv von seiner eigenen Meinung dominiert: „Wenn Sie […] zu den letzten Menschen gehören werden, deren Leben nur allzu früh mit Verfall und Gebrechlichkeit endet, haben wir es sicher bestimmten Bioethikern zu verdanken“ (S. 398).
Neben der Gefahr einer Spaltung zwischen arm und reich, sowohl innerhalb einer Nation als auch in globalem Maßstab, betont Sinclair aber auch die ökonomischen Vorteile einer Medizin, die schlussendlich das Altern als Ursache vieler Krankheiten bekämpft, statt bloß Symptome zu behandeln.
Wie hält sich David Sinclair jung?
Im Nachwort zu seinem Buch beschreibt der Harvard-Professor, welche Konsequenzen er persönlich aus den Forschungsergebnissen zieht. Tatsächlich überträgt Sinclair viele wissenschaftliche Erkenntnisse auf sein eigenes Leben und passt seinen Lebensstil an, um möglicherweise länger und in guter Gesundheit zu leben. Ein Großteil seiner Maßnahmen betrifft dabei die Ernährung, darunter auch die Einnahme bestimmter Nahrungsergänzungsmittel (S. 401).
Trotz vieler neuer Erkenntnisse gibt es bislang nicht zu allen Maßnahmen klinische Studien, die die Wirksamkeit für Menschen belegen – im Feld der Langlebigkeitsforschung würden solche Studien mehrere Jahrzehnte dauern. Sinclair argumentiert aber: wenn Maßnahmen in Mäusen, Affen und anderen Tieren das Altern hinauszögern, eine Verträglichkeit beim Menschen festgestellt worden ist, und möglicherweise bereits Kurzzeitstudien an Menschen einen positiven Effekt andeuten; weshalb sollten Menschen Maßnahmen aufschieben, die potentiell ihre Gesundheit verbessern und ihr Leben verlängern können?
Weil aber viele dieser Maßnahmen noch nicht streng klinisch an Menschen geprüft worden sind, stellt der Wissenschaftler einen Vorsichtshinweis vorweg: er betont, dass derartige Maßnahmen nicht zwangsläufig das Richtige für jeden sind, vielleicht nicht mal für ihn selbst. Als Pionier der Langlebigkeitsforschung hat Sinclair aber sicherlich einen tieferen Einblick in aktuelle Studienergebnisse als ein durchschnittlicher Laie; und wer, wenn nicht ein Langlebigkeits-Forscher, könnte besser Rat geben, wie wir länger gesund leben können?
Sinclairs Lebensstil für ein längeres Leben
Einige seiner Maßnahmen sind nichts Neues: Übergewicht vermeiden, nicht rauchen, regelmäßige Bewegung, und eine überwiegend pflanzliche Ernährung, insbesondere aber nur seltener Verzehr von rotem Fleisch. Diese Empfehlungen werden vielfach generell für ein gesundes Leben ausgesprochen, ganz unabhängig vom Altern. David Sinclair geht noch einen Schritt weiter und verzichtet fast komplett auf Desserts und Speisen mit zugesetztem Zucker. Außerdem isst er weniger Brot und Nudeln, da er festgestellt hat, dass diese seinen Insulin- und Blutzuckerspiegel besonders stark erhöhen. Die Ausschüttung von Insulin hemmt jedoch Enzyme, die ansonsten über zelluläre Reparaturprozesse ein längeres Leben ermöglichen könnten.
Auch die Gefahr von UV-Strahlung in praller Sonne sowie von radioaktiver Strahlung beim Röntgen oder in der Computertomographie ist bereits seit Jahrzehnten bekannt. Durch ausreichenden Sonnenschutz lassen sich Schäden der DNA durch UV-Strahlung glücklicherweise aber gut vorbeugen. Irritierend erscheint in diesem Zusammenhang Sinclairs Verzicht auf Essen, das in der Mikrowelle erhitzt worden ist. Da Mikrowellenstrahlung nicht ionisierend ist, geht von der so erhitzten Speise keine Strahlungsgefahr aus; und die Schädigung der Zellen im Essen ist vergleichbar mit einem gewöhnlichen Kochvorgang.
Zwei weitere Lebensgewohnheiten zielen darauf ab, in den Zellen ein moderates Level an Stress zu erzeugen, damit dieser die Zellen in den Überlebensmodus schaltet: indem Sinclair jeden Tag mindestens eine Mahlzeit weglässt (in der Regel das Mittagessen), betreibt er leichtes intermittierendes Fasten und hält so seinen Insulinspiegel über längere Zeit niedrig. Außerdem bemüht er sich, seinen Körper eher kühl zu halten, besonders auch beim Schlafen.
Und schließlich nimmt David Sinclair auch mehrere Nahrungsergänzungsmittel: jeden Morgen 1g NMN, 1g Metformin, und 1g Resveratrol. NMN (nicotinamide mononucleotide – das angesprochene Vitamin-B3-ähnliche Molekül) soll den NAD-Spiegel erhöhen, um den Zellen mehr Energie für Reparaturenzyme bereitzustellen; Metformin erhöht als klassisches Diabetesmedikament die Inuslinsensitivität, und Resveratrol soll gezielt Sirtuine aktivieren. Jeden Abend nimmt Sinclair zusätzlich Vitamin D, Vitamin K2 und 83mg Aspirin. Alle paar Monate lässt er ein Blutbild anfertigen, um gegebenenfalls durch Ernährung und Sport die Entwicklung bestimmter Blutwerte gezielt beeinflussen zu können.
Fazit
„Das Ende des Alterns – die revolutionäre Medizin von morgen“ ist als populärwissenschaftliches Buch mit reichlich Quellenangaben zu weiterführender Literatur sorgfältig ausgearbeitet und als Einstieg in das Thema Langlebigkeitsforschung sehr gut geeignet. Die Themen Gesundheit, Altern und Krankheit betreffen früher oder später jeden von uns, und es ist spannend zu lesen, welche enormen Fortschritte in Medizin und Forschung in den letzten Jahren erzielt hat.
Mehrere Abschnitte im Buch sind stark von David Sinclairs persönlicher Meinung und Hoffnung eingefärbt. Dies ist nicht unbedingt verwunderlich, da der Medizin-Professor mit seiner Publikation breite Werbung für sein Forschungsthema macht, was sich möglicherweise finanziell in öffentlichen und privaten Forschungsgeldern bemerkbar machen könnte. Sinclair hat im Laufe seiner Karriere mehrere Firmen gegründet, die versuchen, seine Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte zu überführen; somit lassen sich kommerzielle Absichten hinter seinen Aussagen im Buch nicht von der Hand weisen. Bei genauem Lesen wird aber deutlich, dass in den Texten sauber unterschieden wird zwischen einer belegten Aussage („Fakt“) und einer Arbeitshypothese oder einer Zukunftsvision des Autors selbst.
Insgesamt lässt sich das Buch für Einsteiger in die Themen Alterungsforschung und Langlebigkeit durchaus empfehlen. Es ist aber sinnvoll, begleitend zum Haupttext die in den Fußnoten angegebenen Quellen nachzuschlagen und aktuelle wissenschaftliche Diskussionen zu verfolgen; gerade auch mit Blick auf die Studienobjekte (z.B. Mäuse vs. Menschen). In diesem Themenfeld werden laufend neue Erkenntnisse gewonnen und publiziert, und es besteht die Möglichkeit, dass konkrete Sachverhalte in wenigen Jahren revidiert oder in ihrer generalisierten Gültigkeit eingeschränkt werden müssen. Die große Vision Sinclairs wird durch solche Korrekturen jedoch unverändert bleiben und allenfalls ein paar weitere Jahre in die Zukunft gerückt werden.
Hinweis
Die im Blogpost referenzierten Seitenzahlen beziehen sich auf die deutschsprachige Ausgabe des Buchs.